Ein Buch macht Bestandsaufnahme: „Reclaim the Street“
Irgendetwas ist vor zehn Jahren passiert in der Street Photography, sie hatte, wie man so schön auf englisch sagt, einen Moment. Das war übrigens genau der Moment, der auch mich mitriß. Ich hatte mein Spiegelreflex-Monstrum (wir hatten ja nichts damals) gegen eine handliche M9 (die immerhin hatten wir dann doch, damals) eingetauscht, postete eifrig meine rührend unbeholfenen Versuche auf Flickr und las mich durch die Diskussionsforen der Flickr-Gruppe „Hardcore Street Photography“. Ich bewunderte all die angeblitzten Gesichter und aufgerissenen Hundemäuler und was damals eben als krass und gut galt und mir einen Haufen Respekt abnötigte.
Mitten in diesen Moment platzte auch noch die Veröffentlichung des sehr dicken, großen und bunten Buches „Street Photography Now“ mit dem superbekannten Taubenbild von Matt Stuart auf dem Cover. Parallel gab es übrigens auch eine wunderbare Aktion auf Flickr, bei der jeder der Fotografen, die darin vorkamen, Aufgaben stellten, jede Woche eine, bei denen jeder ein Jahr lang mitmachen konnte. Es gab Wochensieger und am Ende, nach 52 Wochen, zwei Jahressieger, Jack Simon und Jo Paul Wallace. Man kann sich heute im Übrigen gar nicht mehr vorstellen, wie wahnsinnig wichtig Flickr damals war. So einen Treffpunkt gibt es nicht mehr, und ich vermisse ihn seitdem. Wahrscheinlich sind Flickr und eben das Internet insgesamt zu 80 Prozent verantwortlich für die Explosion dieses Genres, die damals stattfand.
Das Buch „Street Photography Now“ von Sophie Howarth und Stephen McLaren versammelte damals alle, die wichtig waren, und das waren sehr viele Männer und fünf Frauen. Die ganz bekannten Namen wie Bruce Gilden, Alex Webb und Martin Parr sind dabei, aus Deutschland Wolfgang Zurborn, Siegfried Hansen, Michael Wolf und ein Markus Hartel, den ich zugegebenermaßen erst einmal googeln mußte. Hier und da taucht ein vereinzelter Inder auf (Raghu Rai) oder ein vereinzelter Japaner (Osamu Kanemura), die meisten Namen sind deutlich westlich verortet.
Das klingt jetzt kritischer, als es gemeint ist. „Street Photography Now“ ist noch immer eine absolute Empfehlung, weil es stilistisch die ganze Bandbreite des Genres zeigt und was Straßenfotografie sein kann, wenn man sie läßt. Also mehr als schwarzweiße Architektur und eine Silhouette im Ausfallschritt. Ich bin diesem Buch wahnsinnig dankbar, daß es damals mit meinem Anfängersein kollidierte und mich von Anfang an prägte. Ich habe seitdem von meinen eigenen Bildern nie gedacht, ich kann das jetzt, ich hab Straßenfotografie durchgespielt. SPN (wie wir Insider sagen) hat mir einen ungeheuren Möglichkeitsraum eröffnet.
Das Buch war als eine Art Update zu „Bystander“ von Joel Meyerowitz und Colin Westerbeck konzipiert, der definitiven Geschichte der Straßenfotografie, die nur leider damals hoffnungslos vergriffen und nur für viel Geld antiquarisch aufzutreiben war. SPN war nun der Bystander des Internetzeitalters; globaler, jünger, digitaler. Google Street View war schon erfunden, erste Menschen besaßen iPhones. Nun ging es darum, über eine reine Dokumentation hinauszugehen und sich von der Reportagefotografie abzusetzen. Oft hielt ein geheimnisvolles, manchmal surreales, manchmal verstörendes Moment Einzug in diese Bilder.
Auf SPN folgte nun in diesem Mai RTS, das steht für „Reclaim The Street“, herausgegeben von wieder Stephen McLaren, der diesmal noch Matt Stuart mit ins Boot geholt hat. Das Buch ist noch größer, dicker und mindestens genauso bunt ausgefallen wie sein Vorgänger. Stuart ist diesmal nicht auf dem Cover vertreten, sondern ein Foto von Shin Noguchi, und das weist schon ungefähr den Weg. „Welcome to the new world of global street photography!“ lautet gleich der erste Satz der Einleitung. Länderschwerpunkte blicken nach Indien, nach Thailand, in die Türkei, nach Australien. Die Fotografinnen machen inzwischen ein grobes Drittel aus. Und Flickr ist längst nicht mehr der place to be, sondern Instagram. Dazu kommen neue Organisationsformen und Treffpunkte im Offline-Leben wie Kollektive (aber hallo!) und Festivals.
Auch künstlerisch hat sich etwas getan. SPN mit seinen mitunter krassen, schrägen Bildern und seinen visual puns liegt solide dreizehn Jahre in der Vergangenheit. Von anderen Anthologien mit ihren „jokey, well-composed street shots that rely on juxtapositions to convey a sense of street theatre or an easily decoded pun“ möchte man sich bewußt absetzen. Statt visuellem Fast Food suchen die Herausgeber eine langsamere, gehaltvollere Form der Straßenfotografie. „We would like to bring you some visual poetry“, schreiben sie in der Einleitung, und führen den allgemeinen Richtungswechsel auch darauf zurück, dass Straßenfotografie kein „boys club“ mehr ist.
Vor allem muß sich Street Photography nicht mehr beweisen. Mittlerweile hat jeder mitbekommen, daß sie eine eigene Kunstform ist und nicht nur eine kleine Schwester der Reportage, die manchmal auch noch mit am Rockzipfel hängt. Das unbedingte, und unbedingt krasse Kunstwollen der ersten Internetgeneration aus SPN-Zeiten ist einer gewissen Selbstsicherheit gewichen, die angenehm in sich ruht und ihr Ding macht. Zum Glück hat das immer noch sehr wenig mit Silhouetten im Ausfallschritt zu tun.
Eher mit einer neuen Ernsthaftigkeit, die sich mit aufrichtigem Interesse einem Themenfeld, einer Stadt, einem Land widmet. Sam Ferris sucht die Lichter und Schatten von Sidney, Elisabeth Bick hat neun Jahre lang im Pantheon in Rom fotografiert. Stuart Paton verirrt sich in den Spiegelungen der Konsumtempel seiner Wahlheimat Mailand. Jonathan Castillo dokumentiert die Car Culture von Los Angeles, Niall McDiarmid erkundet England per Großformat. Die Idee des Großfotografen, der herumreist und uns die weite Welt zeigt, ist endgültig passé, die Welt lassen wir uns lieber von denen zeigen, die da auch wohnen. Ja, das ist eine Art Demokratisierung, und das ist gut.
Lustigerweise stimmt das mit meinem eigenen Gefühl überein, und ich dachte erst, das wäre eine dieser Pandemiefolgen – vielleicht ist es das auch. Lange habe ich nämlich auf Reisen Fotos in aller Welt gemacht, das ist einfach, denn dort ist erst einmal alles interessant, weil alles so anders ist. Andere Stromkabel, andere Ampeln, andere Leute. Aber was bleibt übrig, wenn die Begeisterung des ersten, frischen Blicks vorbei ist? Vielleicht ist genau das die Aufgabe: das zu finden, was an der eigenen Umgebung einzigartig ist, was man nur selbst sieht. Und das festzuhalten.
Empfehlen möchte ich am Ende beide Bücher, sie sind beide bei Thames & Hudson erschienen. „Reclaim the Street“ hat 320 Seiten und kostet um die 49 Euro. „Street Photography Now“ hat 240 Seiten und kostet gebunden 39 Euro, als Taschenbuch 23 Euro. Viel billiger als ein Workshop, aber ähnlich anregend.